In meinem Alter sind Erweckungserlebnisse eher selten. Man ist schon froh über ausbleibende Nah- oder Ganztoderfahrungen. Umso größer war meine Verblüffung, als ich beim Durchblättern des aktuellen „Profil“ arglos in Barbara Blahas Kommentar stolperte: „Der Staat als Feind“.
Schon der erste Satz zog mich magisch in seinen Bann: „Seit über vier Jahrzehnten erleben wir eine systematische Erosion staatlicher Handlungsmacht – politisch gewollt und ideologisch befeuert“, stand da schwarz auf weiß und ließ mich freudvoll erschauern. War ich in ein Wurmloch geraten und in einer anderen Realität, dem ersehnten Unternehmerparadies wieder zum Vorschein gekommen? Hatte ich versehentlich halluzinogene Pilze zu mir genommen? Vielleicht die wichtigste politische Revolution der jüngeren Geschichte Österreichs verpasst? Blahas nächster Satz machte die Verwirrung komplett: „Die neoliberale Vorstellung, der Staat solle sich aus der Wirtschaft, der Gesellschaft und aus dem Leben der Menschen heraushalten, hat sich tief in politische Programme und öffentliche Debatten eingeschrieben.“ Sogar vor dem Begriff „Austerität“ schreckte Blaha nicht zurück. Was war geschehen?
Die höchsten Staatsausgaben aller Zeiten
Fieberhaft machte ich mich an die Recherche. „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles“, spricht Mephisto zu Faust, also fing ich beim Geld an. Und siehe da: Noch niemals waren die Einnahmen des Staates höher als im vergangenen Jahr, sie betrugen gigantische 248,8 Milliarden Euro und trieben damit die Einnahmenquote auf satte 51,6 Prozent des BIP. Doch mit dieser enormen Summe kommt der österreichische Staat bei weitem nicht aus: Die Ausgaben sind noch rascher gestiegen, das Defizit beträgt – seit der Abrechnung der Länder, Gemeinden und Sozialversicherungsträger am Montag wissen wir’s – nicht sechs, nicht zwölf, sondern unfassbare 22,5 Milliarden Euro oder 4,7 Prozent des BIP.

Nur 2024, selbstverständlich, denn in Summe hat Österreich zusätzlich zu der immer schon nahe der Enteignung liegenden Abgabenquote in den vergangenen Jahrzehnten noch 394 Milliarden Euro Schulden angehäuft, was eine Pro-Kopf-Verschuldung des Staates von 42.849 Euro bedeutet und den – für ein früheres stolzes Mitglied der „Frugal Four“ besonders unrühmlichen – 7. Platz unter den EU-Schuldenkaisern.
Überhaupt nur in zwei der vergangenen 30 Jahre hat Österreich es geschafft, keine neuen Milliardenschulden zu machen. Dafür liegt Österreich bei der Sozialquote – dem Anteil der Sozialabgaben am BIP – mit knapp 30 Prozent auf dem 3. Platz in der ganzen EU, hat www.diesubstanz.at recherchiert. Tendenz: steigend. Noch ein bisserl mehr von Blahas sozialstaatsvernichtender Austerität, und wir können den Staatsbankrott anmelden.
Bürokratie: In Gottes Hand
Dass die bösen Neoliberalen – wer sollen die eigentlich sein? – den bis zur Adipositas gefräßigen Vater Staat auf Diät gesetzt hätten, kann Blaha also zumindest finanziell nicht gemeint haben. Vielleicht glaubt sie, der Staat habe sich – systematische Erosion, siehe oben – beispielsweise bei der überbordenden Bürokratie zurückdrängen lassen. Doch leider, die Wirtschaft hat davon nichts bemerkt, im Gegenteil: Die zeitvergeudenden Prüf-, Informations- und Dokumentationspflichten sind nicht weniger, sondern mehr geworden, und bei jedem Genehmigungsverfahren für eine unternehmerische Investition gilt: Unter Behördenjuristen, Sachverständigen und auf hoher See bist du in Gottes Hand.
Außer bei Windkraftanlagen, da ist der Projektwerber von vornherein des Teufels fette Beute. Und ob das noch nicht genug wäre, um den Wirtschaftstreibenden die Freude am Unternehmersein endgültig auszutreiben, hat die EU noch eigene Bürokratiemonster wie das Lieferkettengesetz, die Entwaldungsverordnung, die SDG’s oder den ganzen European Green Deal erfunden.
Neue Staatsform: Bürokratur
Also nein, die Verwaltung hält sich keineswegs aus „Wirtschaft, Gesellschaft und dem Leben der Menschen heraus“, wie Frau Blaha befürchtet. Im Gegenteil: Wie ein Schimmelpilz wuchert die Bürokratur – neuerdings oft mit Hilfe des Komplizen Digitalisierung – in alle Lebensbereiche. Seit die früher personell harte Hand der Politik erschlafft ist, haben sich Teile des „öffentlichen Diensts“ selbstermächtigt und zu den neuen Herren der Gesellschaft aufgeschwungen: Ohne jede demokratische Legitimation, lediglich auf Grundlage eigenhändig verfasster Gesetze und selbst geschriebener Verordnungen, mischen sie sich nach Belieben von der Wiege bis zur Bahre in das Alltagsleben der Bürgerinnen und Bürger ein.

Ein Staat im Staat
Und es sind viele, die der Allgemeinheit schwer auf der Tasche liegen: Rund 800.000 öffentliche Beschäftigungsverhältnisse zählt das „Personalbuch des Bundes 2024“, davon entfallen 136.000 auf Bundes-, 148.000 auf Landes- und 85.500 auf Gemeindebedienstete. Knapp 30 Prozent davon sind Lehrer, ein Viertel macht das Gesundheitswesen aus. Doch ausgerechnet in diesen wichtigen Gesellschaftsbereichen, zu ergänzen durch die Polizei, fehlt es vorne und hinten an Personal, während öffentlich finanzierte NGO, aus ideologischen Gründen unterstützte Bildungseinrichtungen und politische Kabinette aus allen Nähten platzen. Dabei hat das alte Bonmot „Der Beamte hat nix, aber das hat er fix“ längst ausgedient: Der öffentliche Dienst zahlt mittlerweile besser als die Privatwirtschaft und macht dieser immer stärker nicht nur Akademiker, sondern zunehmend auch Fachpersonal abspenstig.
Schlaraffenland für Beamte
Kein Wunder, ist die Verwaltung doch immer noch ein Schlaraffenland für Verfechter einer ausgewogenen Work-Life-Balance: So haben in Kärnten selbstverständlich auch jene Lehrer, die der Landesbildungsdirektion oder der Landesregierung dienstzugeteilt sind und gar nicht an Schulen unterrichten, sondern einen ganz normalen Bürojob machen, 14 Wochen Urlaub im Jahr. So kann der Beamte entspannt auf den in seinem Fall besonders wohlverdienten Ruhestand zusteuern: Mit einer durchschnittlichen Pension von 3.100 Euro pro Monat ist der Ruhegenuss des Beamten fast dreimal so hoch wie der des ASVG-Versicherten, der sich in der Privatwirtschaft sein Berufsleben lang abgerackert hat. Das öffentliche Rentnerparadies schlägt sich allerdings auch im Budget heftig nieder, wie das Finanzministerium in der Übersicht „Personal des Bundes“ zuletzt 2024 zusammengerechnet hat. Da waren für die Auszahlungen im Bereich Personal (Bundesbedienstete, „Landeslehrpersonen“ und Pensionen) insgesamt 30,2 Milliarden Euro veranschlagt – wobei der Löwenanteil von 12,5 Milliarden auf Pensionszahlungen entfiel.
Der falsche Staat
Meine Enttäuschung, Sie erahnen es, war uferlos. Kein Erweckungsgefühl, keine geheimnisvolle Realitätsumkehr, keine Spur von „mehr privat, weniger Staat“, im Gegenteil: Der Staat erdrückt immer mehr seine Bürgerinnen und Bürger, presst ihnen ihr sauer verdientes Geld ab und verprasst es für unnützes Personal und undurchdachte Projekte, während zentrale Bereiche des Gemeinwesens – nachhaltige Finanzen, gute Bildung, hervorragende Gesundheitsversorgung, moderne Infrastruktur, innere und äußere Sicherheit – zunehmend vernachlässigt werden. Österreich leidet nicht an zu wenig Staat, sondern an zu viel Staat und, was am Schlimmsten ist: am falschen Staat, der seit langem fatale Fehlentscheidungen trifft, die das Leben seiner Staatsbürger nicht verbessern, sondern verschlechtern.
Wenn die aktuelle Bundesregierung zu tiefgreifenden Reformen im Staat selbst nicht fähig ist – und nichts weist darauf hin –, dann wird die Demokratie das letzte Wort haben und für die Bürger tatsächlich „Autorität zur Versuchung“ werden, wie Frau Blaha warnend schreibt. Aber dann sind wir – siehe Juristen und hohe See – erst recht in Gottes Hand.